Frieden statt Frontex

Frieden statt Frontex

(Kampagne 2013 / 2014)

Am 10. Dezember 2012, dem Tag der Menschenrechte, wurde der Friedensnobelpreis an die Europäische Union verliehen. Der Leiter des norwegischen Nobelkomitees Thorbjørn Jagland begründete die Wahl des Preisträgers damit, dass sich Europa dank der Leistung der Europäischen Union von einem Kontinent des Krieges in einen Kontinent des Friedens entwickelt habe.[1]

Das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe kritisiert die Verleihung und bekräftigt mit der aktuellen Plakatkampagne: Die Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik der EU verdient keinen Nobelpreis!

Die Abschottungspolitik der EU ist verantwortlich dafür, dass jedes Jahr unzählige Menschen an den Außengrenzen der EU ums Leben kommen. Nach Schätzungen von ‚Fortress Europe‘ starben zwischen 1988 und 2011 17.738 Menschen bei dem Versuch in die EU zu gelangen.[2] Der UNHCR[3] schätzt die Zahl der Toten und Vermissten allein für das Jahr 2011 auf ca. 1500.[4]

Die EU-Innenminister verabschiedeten 2004 die Verordnung zur Schaffung der Grenzschutzagentur ‚Frontex‘. Ihre Hauptaufgaben liegen in der Koordination der operativen Zusammenarbeit der EU-Staaten im Bereich der Überwachung der  Außengrenzen und der Durchführung von Abschiebungen zur Bekämpfung irregulärer Einwanderung. Materielle, personale und finanzielle Ressourcen wurden seitdem stetig aufgestockt, so wuchs das Jahresbudget von 6,2 Millionen (2005)[5] auf 86 Millionen (2011)[6]. In Zeiten allgemeiner, rigider Sparpolitik gehören die Budgeterhöhungen für Frontex zu den größten innerhalb des EU-Haushalts.

Mit dem Schengen-Abkommen und dem Schengener Durchführungsabkommen (1990) sollte ein „einheitlicher Raum der Sicherheit und des Rechts“[7] innerhalb der EU-Staaten entstehen. Faktisch vollzog sich damit die Etablierung eines nach außen abgeschotteten komplexen Migrationsregimes. 2002 trat die Dublin II Verordnung, die die Zuständigkeiten der EU-Staaten für die Asylverfahren regelt, in Kraft. Flüchtlinge müssen nach der Dubliner Übereinkunft in dem europäischen Staat, den sie als erstes betreten haben, ihren Asylantrag stellen. Mit der Gesetzgebung wurde die Verantwortung für die Asylverfahren der ankommenden Flüchtlinge auf die Staaten an den Außengrenzen verlagert und der Druck auf diese Staaten, rigorose Maßnahmen zur Abwehr der Flüchtlinge durchzusetzen, erhöht. Flüchtlinge werden inhaftiert, in Lagern untergebracht und vielen wird der Zugang zu einem fairen Asylverfahren systematisch verwehrt.

Eine immer größer werdende Bedeutung spielen so genannte Rückübernahmeabkommen auf bilateraler und seit 2004 auch auf multilateraler Ebene. Diese verpflichten ‚Drittstaaten‘, eigene Staatsbürger, die ohne gültige Aufenthaltspapiere aufgegriffen wurden, wieder aufzunehmen. Die EU schloss Rückübernahmeabkommen auch mit Staaten ab, in denen die Menschenrechtssituation extrem prekär ist und verstößt in vielen Fällen gegen das ‚Non-Refoulement-Prinzip‘ der Genfer Flüchtlingskonvention, das die Abschiebung einer Person in Länder, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sind, untersagt. Die Politik der ’sicheren Drittstaaten‘ und die ‚Rückübernahmeabkommen‘ laufen auf Kettenabschiebungen hinaus, infolge derer viele Flüchtlinge letzten Endes wieder in ihren Herkunftsstaaten landen.

In der BRD wurde bereits 1993 im Rahmen des sogenannten ‚Asylkompromisses‘ das Grundgesetz geändert und die Drittstaatenregelung eingeführt. Menschen, die über ein als sicher klassifiziertes Land einreisen, dürfen sich in Deutschland nicht mehr auf das Recht auf Asyl berufen. Elementarer Bestandteil dieser Neuregelung war die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes, das rassistische und diskriminierende Sonderregelungen beinhaltet: Leistungen für Geduldete und Asylsuchende wurden aus dem regulären Sozialsystem herausgelöst und mit intendierter Abschreckungswirkung unterhalb des geltenden Existenzminimums veranschlagt. Implementiert wurde „ein transitorischer Status“ für Fluchtmigrant*innen, der sie außerhalb der Gesellschaft stellt: Mit der Unterbringung in abgelegenen Lagern, der Residenzpflicht sowie umfassenden Arbeits- und Studierverboten werden Asylsuchende Bewegungsfreiheit, soziale Rechte und gesellschaftliche Partizipation systematisch verwehrt.

Nach der Gesetzesänderung sank die Zahl der Asylanträge drastisch und immer mehr Migrant*innen wurden in die Illegalität gezwungen. Menschen ohne einen legalen Aufenthaltsstatus haben aufgrund der antizipierten Aussichtslosigkeit nie einen Asylantrag gestellt, ihr Asylantrag wurde abgelehnt oder sie sind mit einem Visum eingereist und nach dessen Ablauf in Deutschland geblieben. Als ‚irreguläre Flüchtlinge und Migrant*innen‘ werden sie entrechtet und kriminalisiert: Ohne Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem, angewiesen auf irreguläre Arbeit in der Schattenwirtschaft und in Privathaushalten bei ständig drohender Abschiebung, stellt ein Leben ohne Papiere die radikalste Form der Ausweisung aus einer Gesellschaft dar; in den Zonen der formalen Nicht-Existenz sind alle Regeln und Rechte suspendiert.

Nichtsdestotrotz leben Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus unter uns. Denn bei aller Abschreckung und forcierter Entrechtung werden Migrationsbewegungen nicht per se unterbunden: „Vielmehr tragen ausdifferenzierte Migrations- und Grenzregime dazu bei, Migrant*innen zu hierarchisieren und eben einen Teil von ihnen auch zu illegalisieren. Und das ist weder Ergebnis von Politikversagen noch eines des Zufalls. Vielmehr liegt nahe, dass die Illegalisierung eines Teils der Migrant*innen funktional sein könnte: Sie stellen billige Arbeitskräfte dar und können durch die miserablen Verhältnisse, die durch die Illegalisierung geschaffen werden, zur Abschreckung weiterer Migrant*innen dienen.“[8]. Die Abgrenzung verschiedener Migrationsformen und die darauf basierende Kategorisierung regulieren die Legitimation von Migrationsgründen und die Gewährung von Rechten. Dabei sind kulturelle und vor allem ökonomische Kriterien wirksam, durch die eine Gruppe von „erwünschten“ Migrant*innen gegenüber der Gruppe „unerwünschter“ Migrant*innen konstruiert und privilegiert behandelt wird.

Nicht nur die in vielerlei Hinsicht durch wirtschaftliche Interessen geleitete Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik der EU verdient keinen Nobelpreis, auch die Handels- und Wirtschaftspolitik ist in keinster Weise preiswürdig: Sie hat der Menschheit in den vergangenen Jahren sicher nicht den größten Nutzen erbracht, wie es Alfred Nobel als Kriterium für die Preisvergabe formulierte, sondern ist mitverantwortlich für Armut, Hunger und Aussichtslosigkeit als Migrations- und Fluchtursachen. In Zeiten, da die Gründe für Flucht und Migration als individuelle Probleme der Geflüchteten oder als allein in anderen Weltregionen verortete Problemlagen verschleiert werden, tritt diese grundsätzliche Mitverantwortung der EU für untragbare Lebensverhältnisse in anderen Teilen der Welt aus dem Blickfeld – leider auch aus dem des Nobelpreiskomitees.

Das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin wurde 1996 vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen Anfang der 1990er Jahre (Asylkompromiss), der Abschottungspolitik auf europäischer Ebene und des Rassismus in der Gesellschaft als antirassistisches Projekt mit dezidiert praktischer Ausrichtung – dem Ziel der Vermittlung medizinischer Versorgung für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus – gegründet.

Daher fordern wir:

Schluss mit Abschottung und Illegalisierung!

Nein zu rassistischen Sondergesetzen!

Gleiche Rechte für alle!

 

Hier findet Ihr den Aufruf in anderen Sprachen

 

[1] Rede von Thorbjørn Jagland, Leiter des norwegischen Nobelkomitees, Oslo, 10. Dezember 2012. www.nobelprize.org

[2]  http://fortresseurope.blogspot.de/

[3] The United Nations High Comissioner for Refugees

[4] „Europa: Mehr Todesfälle im Mittelmeer“ 02. 2012, www. migration-info.de

[5]  http://frontex.antira.info/frontex/

[6] „EU stärkt Grenzschutzagentur Frontex“ FAZ 23.06.2011

[7] http://www.eu-info.de/europa/schengener-abkommen/

[8] Vgl. Helen Schwenken, Die Herstellung von Illegalität, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) (2007): Leben in der Illegalität, Berlin, S. 16-22.

 

Artikel in der taz „Nach dem Friedensnobelpreis für die EU – Ein verlorenes Jahr“ vom 09.12.2013