Aufruf mit medico & vdää – 2015

Gemeinsamer Aufruf der Medibüros und Medinetze in Deutschland, medico international und dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte vom August 2015 für eine Verbesserung der medizinischen Versorgung von Asylsuchenden.

Der Aufruf schließt an die 2014 von den Medibüros und Medinetzen initiierten Kampagne zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes an.

Aufruf

Verbesserung der medizinischen Versorgung für Asylsuchende und Flüchtlinge – Minderversorgung beenden

An die Mitglieder des Bundestages

Wir möchten Sie bitten, sich aktiv einzusetzen für die bundesweite Realisierung einer ausreichenden medizinischen Versorgung von Asylsuchenden und anderen Gruppen, welche unter § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) fallen. Konkret umzusetzen ist dies durch die Eingliederung in die gesetzliche Krankenversicherung und somit durch medizinische Versorgung gemäß § 27 Sozialgesetzbuch V (SGB V) anstelle von §§ 4 und 6 des AsylbLG.

Eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes ist notwendig zur Anpassung an die EU Richtlinie 2013/33/EU und an internationale Abkommen.

In der Richtlinie des europäischen Parlaments und Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (RL2013/33/EU) heißt es, die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge „den Schutz der psychischen und physischen Gesundheit der Antragsteller“ zu gewährleisten (Art. 17 Abs. 2). Diese Versorgung entspricht in Deutschland dem Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gemäß § 27 SGB V.

Menschenrechte müssen Sache des Bundes sein, offen kommuniziert werden und für alle Menschen gelten. Die aktuell praktizierte Minimalmedizin nach §§ 4 und 6 des AsylbLG, und die durch diese Paragraphen entstehende Verunsicherung auf Seiten der (medizinischen) Versorger, sind mit dem Menschenrecht auf Gesundheit nicht vereinbar.

Die Beschränkung auf Behandlung nur bei „akuter Erkrankung und Schmerzzuständen“ (§ 4 AsylbLG) und der Gewährung sonstiger Leistungen, wenn sie „zur Sicherung … der Gesundheit unerlässlich … sind“ (§ 6 AsylbLG), sind weder mit Art. 2 II GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) noch mit der Europäischen Sozialcharta (Art. 11) vereinbar [1]. Ebenso verstoßen diese Paragraphen gegen Artikel 12 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte (IPwskR), gemäß dem die Vertragsstaaten „das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ anerkennen. Dies beinhaltet gemäß Artikel 12, Abs. 2 IPwskR „die erforderlichen Maßnahmen zur Schaffung der Voraussetzungen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen.“

Das BVerfG urteilte am 18. Juli 2012: „Die Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ (BVerfG 18.07.2012, 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11, Rn 121). Die Ablehnung einer angemessenen medizinischen Versorgung von Asylsuchenden aus Sorge, diese könne eine Zunahme von Asylanträgen zur Folge haben, muss folglich als verfassungswidrig gelten. Zudem ist diese Annahme wissenschaftlich nicht haltbar. Einschlägige Untersuchungen belegen: Migration orientiert sich an Netzwerken, medizinische Versorgung ist selten die Ursache der Migration und noch seltener die Grundlage für die Auswahl des Ziellandes (vgl. Anlage 1).

Das derzeitige Gesetz garantiert auch in Notfällen keine ausreichende medizinische Versorgung – willkürliche Auslegungen und Umsetzungen mit gravierenden gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen sind die Praxis.

Die Umsetzung des AsylbLG funktioniert nicht und hat katastrophale Folgen wie aggravierte Krankheitsverläufe, Chronifizierungen und Todesfälle. Die Versorgung nach AsylbLG über Krankenscheine, die von den Sozialämtern ausgestellt werden, legt die Entscheidung über medizinische Versorgung in die Hände von Verwaltungsmitarbeiter*innen. Für die Betroffenen bedeutet dies Angst und das Gefühl des Ausgeliefertseins. Aus Furcht werden Ärzt*innen nicht oder nur nach gravierender Verschlechterung des Gesundheitszustands aufgesucht. Die behandelnden Ärzt*innen sind häufig verunsichert, kennen

Verfahrenswege nicht und lassen sich nicht selten von hinreichenden Behandlungen abhalten [2] (Vgl. Anlage 2 und 3).

Die Beispiele hierfür sind so zahlreich wie alarmierend: Ein 30jähriger Asylsuchender verstarb 1997 im Main-Taunus Kreis, nachdem ein Frankfurter Gericht die Kostenübernahme für eine lebensnotwendigeLebertransplantation im Rahmen der Behandlung eines chronischen Leberversagens verweigerte, da es sich hierbei weder um eine schmerzhafte, noch eine akute Erkrankung handelte und somit nach AsylbLG auf Seite des Patienten kein Anspruch auf Behandlung bestünde [2].

2010 wurde einer schwangeren Frau, die kurz vor dem Geburtstermin stand und Fruchtwasser verlor, in ihrem Heim medizinische Versorgung vorenthalten, da sie keine Schmerzen litt. Am nächsten Tag starb das ungeborene Kind an einer bakteriellen Infektion, ins Krankenhaus kam die Betroffene erst einen weiteren Tag später [3]. Weitere ausgewählte Beispiele für medizinische Fehl- und Unterversorgung gemäß AsylbLG finden Sie in der Anlage 3.

Das Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung ist keine Ländersache!

Um die medizinische Versorgung von Asylsuchenden in der gesamten Bundesrepublik sicher zu stellen, bedarf es einer verbindlichen gesetzlichen Regelung für alle Bundesländer. Von den Ministerpräsidenten und der Kanzlerin werden derzeit eine Erleichterung des Abschlusses von optionalen Länder-spezifischen Krankenkassenverträgen gemäß § 264 Abs. 1 SGB V diskutiert [4]. Angemessene gesundheitliche Versorgung entsprechend menschenrechtlicher Standards darf jedoch keine Ländersache sein. Wir fordern daher die Einbindung aller Asylsuchenden in die GKV gemäß § 264 Abs. 2 SGB V, so wie sie bereits jetzt für alle Asylsuchenden nach 15 Monaten Asylverfahren besteht (§ 2 AsylbLG).

Dies ermöglicht eine angemessene Versorgung im „notwendigen Umfang“ § 2 Abs. 4 SGB V und verhindert Aggravierung von unbehandelten Krankheiten durch Unter- und Fehlversorgung (vgl. Anlage 3). Ein Fortbestehen der §§ 4 und 6 AsylbLG behindert Ärzt*innen systematisch in der Ausübung ihrer ärztlichen Pflicht (vgl. Anlage 2). Durch die Einbindung aller Asylsuchenden in die GKV würde die Bewertung der medizinischen Notwendigkeit von Diagnostik und Behandlung in die Verantwortlichkeit der behandelnden Ärzt*innen, bzw. bei Unklarheiten in diejenige des medizinischen Dienstes der Krankenkassen gelegt werden. Damit würden Sozialämter entlastet und medizinische Entscheidungen künftig von qualifizierten Leistungserbringer*innen getroffen.

Für die geforderte Einbeziehung aller Asylsuchenden in die GKV bedarf es lediglich der Ausweitung eines schon bestehenden Systems. Unnötige Schnittstellenproblematiken werden abgebaut, da Bundeslandspezifische Verträge und Abrechnungssysteme überflüssig würden. Eine gesetzliche Einbindung in die GKV verringert den Administrationsaufwand in den zuständigen Behörden und spart Geld, Personal und Räumlichkeiten [5].

Die medizinische Versorgung aller Asylsuchenden gemäß § 1 AsylbLG in einer gesetzliche Krankenkasse ist nachweislich nicht teurer als die derzeitige Versorgung mit Krankenscheinen vom Sozialamt [5][6] (vgl. auch Anlage 4).

Besonders schutzbedürftige Personengruppen benötigen über die gewöhnlichen Leistungen der GKV hinaus besondere Hilfestellungen [4]. Notwendige medizinische Versorgung gemäß § 2 Abs. 4 SGB V muss jedoch aus o.g. Gründen für alle Asylsuchenden verfügbar sein und darf nicht an die besondere Schutzbedürftigkeit gebunden sein [7].

Die Einbindung aller Asylsuchenden gemäß § 264 Abs. 2 SBG V in die GKV gewährleistet eine praktikable, bürokratiearme Umsetzung durch bereits existierende Strukturen, verursacht keine zusätzlichen Kosten und schafft ein einheitliches, menschenrechtskonformes System der Gesundheitsversorgung ohne Diskriminierungen – dies erfordert die Streichung des § 4 AsylbLG.

Text als pdf inklusive Literaturangaben und Anlagen

Pressemitteilung vom 19. August 2015: Medizinische Minderversorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen beenden