Grenzenlos ausgegrenzt

Grenzenlos ausgegrenzt

(Kampagne 2013 / 2014)

Bürger*innen aller EU-Staaten haben ein bedingungsloses Recht auf Freizügigkeit, das ihnen erlaubt, sich in allen anderen EU-Ländern aufzuhalten und niederzulassen, ohne dafür im Voraus im Herkunftsland eine Aufenthaltserlaubnis beantragen zu müssen. Im Schengenraum werden keine Grenzkontrollen mehr durchgeführt.

Auch die Bürger*innen der „neuen“ EU-Länder dürfen sich seit ihrem Beitritt in 2004 (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern) bzw. in 2007 (Rumänien und Bulgarien) in Deutschland aufhalten, doch ihre soziale Lage ist in vielen Fällen äußerst prekär und es werden ihnen in der Praxis oft Grundrechte verwehrt, wie das Recht auf fairen Lohn, medizinische Versorgung sowie sichere Unterkunft.

Besonders bulgarische und rumänische Angehörige der Roma-Minderheit werden in der EU ethnisiert und, ungeachtet ihrer Unionsbürgerschaft, dadurch diskriminiert. Trotz des unbefristeten Freizügigkeitsrechts wurden in den letzen Jahren Roma vorwiegend aus Rumänien und Bulgarien aus Frankreich abgeschoben – obwohl dies gegen das EU-Recht verstößt. Auch in Berlin gab es illegale Ausweisungen von Menschen mit Roma-Hintergrund. Den obdachlosen Familien aus Rumänien, die in Berlin in Parks übernachten mussten, wurden im Gegensatz zu anderen EU-Bürger*innen keine Plätze in Notunterkünften vermittelt. Stattdessen erhielten sie Rückfahrttickets vom Berliner Senat.

Viele Menschen aus osteuropäischen Ländern kommen nach Berlin, um so der Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit in ihren Herkunftsregionen zu entgehen. In Bulgarien, dem ärmsten EU-Land, liegt das durchschnittliche Monatseinkommen bei gerade einmal 300 €, in Rumänien bei 371 €. In den postkommunistischen Ländern Südosteuropas wurde die Minderheit der Roma von den Folgen der Systemumbrüche am härtesten getroffen. Die meisten Roma haben keine Arbeit (in Rumänien, der Slowakei und in Bulgarien beträgt die Arbeitslosenquote von Roma 80 bis 90 Prozent), leben in unzumutbaren Wohnverhältnissen, werden im Bildungssystem diskriminiert und haben oft keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Außerdem werden sie häufig Opfer pogromartiger Verfolgung von Rechtsextremen. Dabei bilden sie eine der größten ethnischen Minderheiten in der Europäischen Union – zehn bis zwölf Millionen Roma leben insgesamt in den verschiedenen EU-Ländern.

Es bestehen nach wie vor viele Unklarheiten bezüglich der sozialen Rechte von Unionsbürger*innen und die Rechtsprechungen sind uneinheitlich. Viele Ansprüche müssen noch endgültig durch Präzedenzfälle und Gerichtsklagen entschieden werden.

Legal aber unversichert: Arbeitsuchende Personen werden von Leistungen nach SGB II faktisch ausgeschlossen. Dieser Ausschluss ist für Angehörige der EFA-Staaten zwar mit dem Diskriminierungsverbot nicht vereinbar, wurde allerdings bisher noch nicht höchstrichterlich geklärt. Das Europäische Fürsorgeabkommen EFA haben alle Staaten unterzeichnet, die bereits vor dem Jahr 2004 der EU angehört haben (außer Österreich und Finnland)  sowie Estland, Malta, die TürkeiIsland und Norwegen.

Die 2004 und 2007 beigetretenen neuen EU-Staaten gehören nicht zu den EFA-Unterzeichner*innen, so dass für sie dieser Ausschluss angewendet wird[1]. Er hat zur Folge, dass Menschen in Armut in prekären Unterkünften leben, von Arbeitgebern sowie Wohnungsgebern betrogen werden, keine ärztliche Versorgung im Krankheitsfall bekommen und keine Möglichkeiten haben, Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung zu werden.

Viele Südosteuropäer*innen sind oftmals weder in ihren Herkunftsländern noch in Deutschland krankenversichert und verfügen auch nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um die Kosten einer ärztlichen Behandlung selbst zu tragen.

Auf Grund der noch bis Januar 2014 für bulgarische und rumänische Staatsangehörige eingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit üben sie in Deutschland als Selbstständige schlecht bezahlte Tätigkeiten aus, die normalerweise in den Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses fallen würden. Logischerweise verdienen sie nicht genug, um sich die privaten Versicherungsbeiträge für Selbstständige leisten zu können.

Für kürzere Aufenthalte ist im europäischen Ausland die europäische Krankenversicherungskarte (European Health Insurance Card – EHIC) vorgesehen. Diese muss bei der Krankenversicherung im Herkunftsland beantragt werden. Viele rumänische und bulgarische Roma können jedoch auf Grund von bürokratischen und marginalisierenden Praktiken der Behörden in ihren Herkunftsländern keine Vorversicherungszeiten nachweisen und bekommen keine EHIC-Karten ausgestellt. So oder so gilt die EHIC nur für einen bestimmten Zeitraum und deckt die medizinische Versorgung lediglich in Notfällen ab, die Kostendeckung von Geburten durch die EHIC ist rechtlich nicht endgültig geklärt (weitere Ausführungen dazu siehe Text „Ich krieg´ mein Kind wo ich will“).

Die „neuen“ Bürger*innen, insbesondere Roma, werden in Deutschland marginalisiert und elementarer Grundrechte beraubt. Der Zugang zu sozialen Leistungen und medizinischer Versorgung ist schwierig, sie werden auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert, jedoch in ihrer Rechtlosigkeit und Not als billige Arbeitskräfte gerne ausgenutzt. Trotz der Grenzenlosigkeit Europas werden sie von den Mehrheitsbevölkerungen sowohl in ihren Herkunftsländern als auch in Deutschland nach wie vor stark ausgegrenzt.

In der Öffentlichkeit stoßen ihre Beweggründe zur Migration auf Unverständnis und Inakzeptanz, denn die neuen EU-Länder gelten als sichere Herkunftsländer. Obwohl die Armut der Minderheit der Roma auf systematische Diskriminierung zurückzuführen ist, werden sie in der öffentlichen Debatte oft als „Armuts-“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ diskreditiert. Das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe setzt sich für gleiche medizinische Versorgung aller Menschen ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus ein und fühlt sich deswegen auch für Migrant*innen aus den neuen EU-Ländern zuständig.

Dennoch möchte das Medibüro Berlin mit dem Netzwerk von unentgeltlich arbeitenden Ärzt*innen nicht als GKV-Ersatz und Lückenfüller im deutschen Sozialsystem instrumentalisiert werden und fordert deshalb:

Gleicher Zugang zu medizinischer Versorgung für alle!

Soziale und politische Rechte für alle!

Rassismus bekämpfen!